# Ich kann als Veganerin andere anstecken *Unsere Autorin lebt ohne Auto, Fleisch und Fliegen. Damit ist sie nicht so naiv, wie viele denken – und das lässt sich sogar wissenschaftlich belegen. Ein Essay von Clara Vuillemin* Publiziert am 4. Januar 2024, 15:53 Uhr [299 Kommentare](https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2024-01/individueller-klimaschutz-fliegen-fleisch-auto#comments "Kommentare anzeigen") Bin ich naiv? Ich esse fast keine tierischen Produkte, lebe ohne Auto und fliege sehr selten. Ich glaube, damit den Klimaschutz voranzutreiben. Kürzlich sprach ich mit meinem Freund Peter darüber: "Ist schon wahnsinnig viel Aufwand für wahnsinnig wenig Ergebnis." "Ich tue das doch nicht für die paar Tonnen CO₂, die ich damit einspare!" "Aha?" "Nein, ich stoße Veränderungen an, die weit über meine eigenen Emissionen hinausgehen." "Das sagt so aber niemand." "Ist aber so." Das kam direkt aus meinem Bauch. Danach saß ich da und überlegte, ob ich nicht gerade Quatsch erzählt hatte. Ich wünsche mir natürlich, dass es so ist. Denn zusätzlich zum Ausbau der Erneuerbaren und dem Umbau der Industrie muss sich auch unser Lebensstil ändern, wenn Deutschland bis 2045 klimaneutral sein soll. Und das lässt sich nicht politisch verordnen. Irgendjemand muss damit anfangen, warum also nicht ich? Ich bin in diesem Sommer nach England und Süditalien gereist. Allein die Buchung der Zugtickets hat mich so viele Nerven gekostet, dass ich danach eine Woche Urlaub mehr gebraucht hätte. Dann höre ich, wie mein Kollege am Tisch hinter mir sagt: "Ne, von Berlin nach Basel, das ist mir zu kompliziert mit dem Zug." Unser Arbeitgeber hat den Flug selbstverständlich finanziert. In solchen Momenten wackelt meine Gewissheit, tatsächlich etwas bewegen zu können. ![](https://img.zeit.de/wissen/2023-12/individueller-klimaschutz-fliegen-fleisch-3/original) Ein Megafon bei einer Demo in Berlin vor dem Kanzleramt, Sommer 2022. © Nikita Teryoshin Ich bin Teil einer Minderheit, einer kleinen Bubble. Ich höre immer wieder, dass sich sowieso niemand so einen grünen, elitären Lifestyle leisten kann und nur kollektive, politische Aktionen etwas bringen. Außerdem: Der ökologische Fußabdruck, also die Idee, dass jeder Einzelne seine Emissionen individuell messen und verringern sollte, [wurde von der Öllobby popularisiert, um von der eigenen Verantwortung abzulenken](https://www.derstandard.de/consent/tcf/story/2000132608301/der-co2-fussabdruck-wurde-von-oelkonzernen-grossgemacht-ist-er-deshalb). Bin ich also ein Opfer der Propaganda? Sind meine Bemühungen nur für mein Gewissen gut? Oder ist die eigene Lebensgestaltung ein unterschätzter Hebel für gesellschaftliche Veränderungen? Bei solchen Fragen hilft nur eines: Wissenschaft. Ich habe mich auf die Suche nach fundierten Antworten in der Soziologie, Psychologie, Neurologie und Ökonomie gemacht. ## Der Mensch trifft Entscheidungen nicht unabhängig Die erste Erkenntnis: Es geht hier um einen Kulturwandel. Dessen Ziel ist eine Gesellschaft, in der ein klimaverträgliches Verhalten keine anspruchsvolle Entscheidung ist, sondern schlicht und einfach normal. Denn Menschen tun in den meisten Fällen das, was normal ist. Als es normal war zu rauchen, rauchten die meisten. Als es normal wurde, ein Smartphone zu haben, hatten bald alle ein Smartphone. Wir sagen Bitte und Danke, weil es normal ist. Psychologinnen sprechen dabei von sozialen Normen. Der US-amerikanische Ökonom Robert H. Frank identifiziert in seinem Buch _Under the Influence – Putting Peer Pressure to Work_ drei grundlegende menschliche Eigenschaften, die dazu führen, dass wir Menschen so sind: 1. Unsere Wahrnehmung ist nicht unabhängig: Ob uns ein Licht hell, ein Geräusch laut oder ein Preis angemessen scheint, hängt davon ab, wie laut, hell oder teuer die Umgebung ist. Fast alles ist relativ. 2. Wir nehmen vor allem Veränderungen wahr. Frank: "Deshalb kann ein Mann einschlafen, während der Fernseher plärrt, wacht aber auf, wenn seine Frau ihn ausschaltet." Anders gesagt: Wir gewöhnen uns an fast alles – außer an Veränderung. 3. Wir haben den angeborenen Drang, uns einer Gruppe anzugleichen. ![](https://img.zeit.de/wissen/2023-12/individueller-klimaschutz-fliegen-fleisch/original) Häufiger Bahn fahren statt Auto: Fachleuten zufolge ist das ein besonders effektiver Weg, damit alle möglichst schnell klimaneutral reisen können. © Nikita Teryoshin [Neurologische Experimente bestätigen](https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fnins.2015.00337/full), dass eine Bezugsgruppe jedes Individuum in seinen Entscheidungen beeinflusst. Das ist kein rationaler Prozess. Ökologisches Verhalten ist da keine Ausnahme. Forscherinnen der Princeton University haben [430 Studien zu Umweltverhalten analysiert](https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2214851120) und untersucht, was uns zu nachhaltigem Handeln motiviert: Informationen? Bildung? Appelle? Sie haben festgestellt: Neben finanziellen Anreizen wirkt der Vergleich mit dem sozialen Umfeld am stärksten. Menschen sehen, was ihre Nachbarinnen, Freunde und Mitbürgerinnen machen, und schon gleichen sie sich an. Aktuell dominieren einige soziale Normen, die dem Klimaschutz im Weg stehen. Das eigene Auto, obwohl man in der Stadt wohnt, ist normal. In den Urlaub mit dem Flieger, das tägliche Fleisch – ebenfalls normal. Doch auch ungeschriebene Gesetze können umgeschrieben werden. Zum Beispiel über soziale Ansteckung. Also "die Verbreitung von Ideen, Einstellungen oder Verhaltensmustern innerhalb einer Gruppe durch Nachahmung und Konformität", so steht es im _Oxford Wörterbuch der Psychologie_. Sie ist überall: [Fettleibigkeit ist ansteckend](https://www.nature.com/articles/srep37961), [Rauchen](https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0167268103000313), die Vorliebe für SUVs, [Rechtsextremismus](https://www.nature.com/articles/s41599-020-00546-3), [Suizid](https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0003122413519445). Jede Mode basiert auf sozialer Ansteckung. Sie kann sogar erklären, wie wir in unserem fossilen Schlamassel gelandet sind. "Das vielleicht bedeutendste Beispiel", schreibt Ökonom Robert Frank, "ist die Größe von Häusern." Immer reichere Topverdiener hätten sich immer größere Häuser gekauft. "Dadurch hat sich der Referenzrahmen für das folgende Einkommenssegment verändert", schreibt Frank, "und so weiter, die ganze Einkommensleiter runter." Vor allem wegen dieser Kaskade hat das durchschnittliche neu gebaute Haus in den USA heute fast doppelt so viele Quadratmeter pro Bewohner wie noch 1973. [Auch der Weltklimarat IPCC meint](https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg3/downloads/report/IPCC_AR6_WGIII_Chapter05.pdf), dass soziale Ansteckung eine grundlegende Ursache für unseren CO₂-intensiven Lebensstil ist, fügt aber hinzu: "Die soziale Ansteckung kann ebenso genutzt werden, die Erderwärmung zu mildern." ## Ansteckung funktioniert am Esstisch Ich erlebe das vor allem am Esstisch. Schon sehr bald, nachdem ich mich gegen tierische Lebensmittel entschieden hatte, hat auch mein Partner kein Fleisch gekauft, keine Eier, keine Butter mehr. Gelegentlich liegt noch ein Stück Käse im Kühlschrank. Jedes Mal, wenn ich mit Freunden koche, gebe ich einen kleinen Anstoß zu einer nachhaltigen Ernährung. Denn wer gemeinsam kocht und isst, tauscht automatisch Wissen über Produkte und Rezepte aus. Und von mir lernen meine Freunde, wie man einen perfekten Bohneneintopf kocht, nicht wie man ein perfektes Steak brät. Als mein Freund Martin auch begann, auf Fleisch zu verzichten, hielt ich die Frage für unangebracht, ob er meinetwegen so entschieden hatte. Klar ist, Veganer und Vegetarier werden mehr, aber tatsächlich wegen Vorbildern in ihrem Umfeld? Forscherinnen der [Edge Hill University haben 2019 untersucht](https://research.edgehill.ac.uk/ws/portalfiles/portal/20745213/Pathways_Final_Report_June_2019_Parkinson_and_Twine.pdf), wie die englische Bevölkerung zu Veganismus steht, und beobachtet, dass Menschen mit veganen Freundinnen oder Familienmitgliedern vegane Ernährung als deutlich gesünder einstuften als jene, die keine Veganer kennen. Zudem sind Nichtveganer, die regelmäßig vegane Freunden treffen, eher bereit, vegane Lebensmittel auszuprobieren, und können sich einen Übergang zu einem veganen Leben eher vorstellen. ![](https://img.zeit.de/wissen/2023-12/individueller-klimaschutz-fliegen-fleisch-4/original) Klimaschutz in der Landwirtschaft wird nur funktionieren, wenn sich die Ernährungsgewohnheiten ändern. © Nikita Teryoshin Jeder angesteckte Mensch kann andere anstecken. Aber warum sind dann nicht längst alle wie ich? ## Warten auf die Chefs ist sinnlos Verhaltensweisen verbreiten sich nicht wie Viren. Das ist eine der [zentralen Botschaften Damon Centolas](https://www.damoncentola.com/), der die soziale Ansteckung wie kaum ein anderer erforscht hat. Der Soziologe an der University of Pennsylvania unterscheidet zwei Arten der sozialen Ansteckung: einfache und komplexe. Masern, Gerüchte, virale Videos und simple Ideen folgen den Regeln der einfachen Ansteckung: Ein einziger Kontakt kann zu einer Übertragung führen, ob die angesteckte Person es will oder nicht. Verhaltensänderungen dagegen folgen den Regeln der komplexen Ansteckung: Es braucht mehrere Kontakte, bis eine Übertragung stattfindet, und die Chancen einer Ansteckung hängen von der Glaubwürdigkeit der Person ab. Zudem muss ein Lernprozess stattfinden, und es gibt Widerstände, etwa weil ein neues Verhalten auch negative soziale Kosten haben kann. Wer zum Beispiel seine Ernährung oder Mobilität umstellen will, muss viel neues Wissen aufbauen sowie Zeit und Geld investieren. Hinzu kommt die Angst, als Spinner oder Naivling gesehen zu werden. Am Anfang des Prozesses sehen viele eher, was sie verlieren, als was sie gewinnen können. Deshalb verbreitet sich ökologisches Verhalten nicht wie ein Lauffeuer. Doch es verbreitet sich, langsam und über verschlungene Wege. [Schweizer Forscher haben 2018 untersucht](https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0301421518302209), warum Hausbesitzer eine Fotovoltaikanlage installieren, und herausgefunden, dass eine große Rolle spielt, was die Nachbarn mit ihren Dächern machen – auch Solaranlagen unterliegen also den Gesetzen der sozialen Ansteckung. [Eine US-Studie](https://www.pik-potsdam.de/en/news/latest-news/solar-panels-are-contagious-but-in-a-good-way-study), die mit einer ähnlichen Frage Satellitenbilder ausgewertet hat, kommt sogar zu dem Schluss: "Ob ein Haus ein Solarpanel hat, hängt stärker von der Anzahl Solarpaneele in der nahen Nachbarschaft ab, als von allen anderen untersuchten sozioökonomischen und demografischen Faktoren." Es gibt allerdings eine Einschränkung: Die ansteckende Wirkung nimmt mit wachsender Distanz ab. Die Schweizer Forscherinnen haben daher eine überraschende Empfehlung an die Politik. Alternativ zu flächendeckenden Förderungen sollten gezielt regionale Hotspots geschaffen werden, um Schneeballeffekte zu kreieren. Der Soziologe Damon Centola dürfte die Forderung unterstützen. Nach seiner Theorie kann man sich unsere Gesellschaft als ein Beziehungsnetz vorstellen, in dem jeder Mensch ein Knotenpunkt zwischen Verbindungen ist. Einige Knotenpunkte haben viele Kontakte, andere nur wenige. Das klingt nach Superspreadern, wie wir sie von Corona kennen. Aber die Ausbreitung von Verhalten funktioniert so nicht. Centola hat festgestellt, dass sich neue Verhaltensweisen zuerst langsam in kleinen Gruppen etablieren, oft am Rande einer Gesellschaft. Das liegt daran, dass es eine komplexe Ansteckung ist: Sie gelingt nur, wenn sich mehrere Menschen in ihrem neuen Verhalten gegenseitig stärken und sich so innerhalb einer kleinen Gemeinschaft die soziale Norm verschiebt. Dann werden innerhalb der Gruppe auch Menschen angesteckt, die keine Vorreiter sind. Das neue Verhalten kann sich von dort mit der Zeit in weiteren kleinen Communitys ausbreiten. Die zentralen Knoten eines Netzwerks dagegen, also gut vernetzte Menschen in der Gesellschaft – Leute in Machtpositionen, Manager, Politikerinnen oder Journalisten etwa –, gehören eher zu den Nachzüglern. Sie stehen unter Beobachtung und haben oft zu viel zu verlieren, um progressives Verhalten, dessen sozialer Wert noch unklar ist, früh zu übernehmen. Das alles birgt zwei gute Nachrichten: Erstens sind die oft verspotteten sozialen Bubbles kein Problem, sondern eine unvermeidliche Begleiterscheinung eines jeden Kulturwandels. Und zweitens: Wir müssen nicht warten, bis die Chefs vorangehen – es liegt in ihrer Natur, das Schlusslicht zu sein. ![](https://img.zeit.de/wissen/2023-12/individueller-klimaschutz-fliegen-fleisch-7/original) Neue Verhaltensweisen etablieren sich zuerst langsam in kleinen Gruppen, oft am Rande einer Gesellschaft. © Nikita Teryoshin ## Eine überzeugte Minderheit kann den täglichen Konsum ändern Also wer, wenn nicht die oben? Ilona M. Otto, die an der Uni Graz zu Systemtransformation forscht, sagt dazu: "Wir Bürger haben einen Einfluss, einige einen größeren, andere einen kleineren." Künstlerinnen und Studenten seien zum Beispiel oft die Vorhut kultureller Veränderung. Auf dem Land können die Widerstände größer sein als in der Stadt, denn dort gäbe es mehr ältere Menschen, die sich weniger verändern wollen, und weniger Möglichkeiten, den Freundeskreis zu wechseln. Aber jeder, der nicht in der totalen Isolation lebe, sei ein Vorbild für andere. Es tut gut, das zu hören. Manchmal fühlt sich mein Einfluss ganz klein an, viel zu klein angesichts der Größe des Problems. Warum hat die Öllobby den ökologischen Fußabdruck verbreitet? Ist es etwa kontraproduktiv, sich im Privatleben zu engagieren, weil darunter das politische Engagement leidet? ## Die Spirale von Angebot und Nachfrage anstoßen Nein, sagt die Psychologin Ellen Matthies, die an der Uni Magdeburg umweltrelevante Verhaltensweisen untersucht: "Alle klimaschonenden Verhaltensweisen hängen positiv zusammen. Das politische Handeln korreliert mit dem privaten." Die Leute gehen nicht weniger auf Demos, weil sie sich ein Lastenrad gebastelt haben. Dasselbe gilt für den Zusammenhang zwischen kleinen und großen Verhaltensänderungen. Es bringt im Kampf gegen den Klimawandel zwar nicht viel, wenn jemand keine Plastikstrohhalme verwendet, aber immer noch in den Urlaub fliegt, doch es schadet auch nicht. Matthies: "Es ist ein Mythos, dass die Leute sich entlastet fühlen, wenn sie etwas Kleines tun, und sich deshalb auf anderen Ebenen weniger engagieren." Das ist beruhigend. Doch es gibt noch einen weiteren heiklen Punkt. Nach meiner Erfahrung ist es fast nicht zu vermeiden, dass sich einige Menschen angegriffen fühlen, wenn etwa dieser Satz fällt: "Ich möchte aus ökologischen Gründen nicht fliegen." Da beginnt sich so manches Gegenüber zu rechtfertigen. Und es stellt sich die Frage: Könnte mein Verhalten Menschen abschrecken und ihre klimaschädlichen Positionen sogar verhärten? Die Forschung kann diese Frage nicht eindeutig beantworten, dafür sind die Kontexte zu unterschiedlich, sagt Matthies. [Es gibt Studien](https://journals.ametsoc.org/view/journals/wcas/12/4/WCAS-D-19-0141.1.xml), die zeigen, dass es unter Umständen keine gute Idee ist, Menschen aufzufordern, ihr Verhalten zu ändern. Aber das ist auch nicht nötig. Das Schöne am Vorleben ist, dass ich meinen Mitmenschen etwas zeigen kann, ohne dabei den moralischen Zeigefinger heben zu müssen. Das kann trotzdem unangenehm sein, was aber nur zeigt, dass es nicht unbemerkt bleibt. Es gibt noch eine andere Ebene, auf der individuelles Verhalten wirken kann – ohne dass dabei geredet werden muss. Denn ein ökologischer Kulturwandel braucht neue Produkte und Dienstleistungen, die es ohne potenzielle Konsumenten niemals geben wird. Nachfrage schafft Angebot und Angebot schafft Nachfrage. Was eine überzeugte Minderheit mit ihrem täglichen Konsum anrichten kann, ist aktuell in jedem Supermarkt zu beobachten. "Die Vegetarier und Veganer werden mehr, und sie lösen viel aus", sagt Transformationsforscherin Ilona M. Otto. "Bei uns auf der Arbeit bestellen wir nur noch vegetarische und vegane Produkte – das ist jetzt unsere neue soziale Norm. Durch diesen Wandel steigt die Nachfrage, was den gesamten Markt verändert. Inzwischen gibt es sogar im Discounter ganze Regale voller Fleischersatzprodukte." Es wird immer einfacher, weniger tierische Lebensmittel zu konsumieren, weil das Angebot von Alternativen regelrecht explodiert. Für den Markt für Milchersatzprodukte wird in Deutschland jährlich ein [zweistelliges Wachstum prognostiziert](https://www.statista.com/outlook/cmo/food/dairy-products-eggs/milk-substitutes/germany). Bei Fleischersatzprodukten sieht es nicht anders aus. So werden die Produkte vielfältiger, besser, zugänglicher und günstiger, die Nachfrage wird größer und damit wiederum das Angebot, und das nicht nur im Supermarkt, auch in Kantinen, Restaurants, Imbissbuden. ![](https://img.zeit.de/wissen/2023-12/individueller-klimaschutz-fliegen-fleisch-2/original) Karlo, ein Schwein, das der Schlachtung entkam. © Nikita Teryoshin Eine ähnliche Dynamik ist bei E-Rädern und E-Autos, lokalem Tourismus, Secondhandkleidung oder Mehrwegverpackungen zu beobachten oder zumindest vorstellbar. Auch bei den Solarzellen begann es so. Der Amerikaner Gregory Nemet hat [ein Buch darüber geschrieben](https://www.howsolargotcheap.com/), warum sie so billig wurden. Neben Forschung, staatlichen Subventionsprogrammen und privaten Unternehmern identifizierte er als einen entscheidenden Faktor "eine Kohorte von Erstanwendern mit einer hohen Zahlungsbereitschaft und dem Willen, sich Informationen von ihren Nachbarn zu holen". So lautet auch die Einschätzung des Weltklimarats: "Späte Anwender neigen dazu, neue Technologien und Verhalten schneller zu übernehmen als frühe Pioniere." Die Hindernisse seien in frühen Übergangsphasen hoch. "Doch durch technische und soziale Lernprozesse, den Aufbau von Netzwerken, Skaleneffekten, kulturellen Debatten und institutionellen Anpassungen nehmen die Hindernisse ab." Irgendwann geht alles ganz einfach. ## Das Glück liegt in der Wirksamkeit Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Auch ich frage mich manchmal, ob ich nicht eines Tages resignieren werde. Entscheidend für die Motivation ist das Gefühl, etwas zu erreichen. In der Psychologie heißt es Selbstwirksamkeit. Die Psychologin Matthies unterscheidet im Kontext des Klimawandels zwei Arten der Selbstwirksamkeit. Die Erste bezieht sich auf das Erreichen selbst gesteckter Ziele: Wenn sich jemand vornimmt, ökologischer zu leben, und erste Erfolge verbuchen kann, steigt die Motivation, weitere Schritte zu gehen. Auch Transformationsforscherin Otto beschreibt einen möglichen Prozess so: "Eine Person fährt mehr mit dem Rad und weniger Auto, schließt dann Freundschaften mit anderen Radfahrern, wird später Mitglied in einem Radclub, und beteiligt sich vielleicht irgendwann an einer Bürgerinitiative für sicherere Radwege im Dorf." Die zweite Art der Selbstwirksamkeit bezieht sich auf den Glauben, nicht nur bei sich, sondern in der Welt etwas verändern zu können. Hier versteckt sich einer der großen Bremsklötze der ökologischen Transformation, denn die Emissionen, die eine einzelne Person vermeiden kann, sind verschwindend klein. "Man muss auch wahrnehmen, dass politisch etwas passiert", sagt Psychologin Matthies. "Die Leute wissen, dass es ohne Politik nicht geht." Wenn sich das System trotz vieler Bemühungen nicht bewegt, führe das zu Gefühlen der Hilflosigkeit. Das kenne ich. Meine Motivation wäre viel größer, wenn unsere Regierung mehr Entschlossenheit zeigen würde. Aber ich will mir von der gefühlten Blockade der Ampelkoalition nicht mein Selbstwirksamkeitsempfinden versauen lassen. Ich habe diesen Text geschrieben, weil ich meinem diffusen Gefühl, jeden Tag etwas zu bewegen, nachgehen wollte. Jetzt weiß ich, dass Verhalten ansteckend ist, dass soziale Bubbles in diesem Kontext kein Problem sind, dass wir nicht auf die Chefs warten sollten und dass Käufer teurer ökologischer Produkte dazu beitragen können, dass sich diese später alle leisten können. Und ich beobachte die kleinen Veränderungen viel aufmerksamer. Seit ein paar Wochen sehe ich in immer mehr Berliner Cafés Schilder, auf denen sinngemäß steht: "Alternative Milch neuerdings ohne Aufpreis". Meine Freundin Miriam, die viel zwischen Berlin und Zürich pendelt, hat sich auf mein Anraten eine Bahncard gekauft und fliegt die Stecke nur noch in Ausnahmefällen. Und mein Vater, ein ausgesprochener Fleischliebhaber, erkundigte sich, was denn Seidentofu genau sei. Er wollte ein Rezept aus dem veganen Kochbuch ausprobieren, das mein Partner ihm zu seinem Geburtstag geschenkt hatte.